Briefwechsel Philipp Anton von Segesser

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Titel
Briefwechsel Philipp Anton von Segesser. Band IX: 1827–1841, Jugendjahre


Autor(en)
Conzemius, Victor
Erschienen
Freiburg 2011: Academic Press
Anzahl Seiten
688 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alois Steiner

Das grosse Werk der Herausgabe von Segessers Briefwechsel, der mehr als 2000 Briefe umfasst, ist mit dem Erscheinen der Bände VII–IX vollendet. Am 8. Februar 2012 fand die festliche Präsentation der letzten drei Bände im Luzerner Kantonratssaal statt, an dem Orte, wo der gefeierte Staatsmann lange Jahre als Grossrat und Regierungsrat gewirkt hatte. Nachdem mehrere Anläufe nicht zum Ziel geführt hatten, brauchte es einen dynamischen Initianten Victor Conzemius, der völlig unvoreingenommen an diese Aufgabe heranging und in erstaunlich kurzer Zeit die ersten sechs Bände (I–VI, umfassend die Jahre 1841–1875) herausgab. Dann brachen Turbulenzen im schweizerischen Verlagswesen aus. Der Benziger-Verlag (Einsiedeln- Zürich) wurde 1984 von der deutschen Westermann Verlagsgruppe übernommen. In den Neunzigerjahren war sie nicht mehr daran interessiert, die Edition weiterzuführen. Ein Ausweg wurde mit dem Freiburger Universitätsverlag gefunden, der später in die Academic Press überging.

Nach langem Zureden konnte sich der Herausgeber unter der tatkräftigen Mitarbeit von Frau Bossard-Borner wieder entschliessen, das Werk fertig zu erstellen. Zudem gelang es, die Jugendbriefe Segessers aus den Jahren 1827–1841 in das Gesamtwerk (Bd. IX) zu integrieren. Diese Jugendbriefe hatten bei Editionsbeginn noch nicht zur Verfügung gestanden.

Jetzt ist das Werk zu einem guten Ende gelangt. Drei Staatsarchivare Dr. Fritz Glauser, Dr. Anton Gössi und seit 2007 Dr. Jürg Schmutz waren dem Unternehmen treue Helfer und Begleiter.

Der VII. Band, der die Jahre 1876–1878 umfasst, schildert den Kampf Segessers für die römisch-katholische Kirche, die im Kulturkampf schärfsten Angriffen ausgesetzt war. Die Schweizer Katholiken wurden als Bürger 2. Klasse betrachtet und von den Radikalen dementsprechend behandelt. Segesser versuchte als erfahrener Politiker, den Kanton Luzern geschickt durch die heftigen Wogen des Kulturkampfes zu steuern und einen gemässigten Kurs zu fahren, allen widrigen Winden zum Trotz. Sowohl die extremen Kreise seiner eigenen Partei wie auch die scharfmacherischen Liberalen und insbesondere die christkatholische Bewegung auf der anderen Seite machten ihm Schwierigkeiten. Dazu hatte Segesser intensiv über die eigene Kirche nachgedacht und war zu einer eigenständigen Haltung gelangt. Im römisch geprägten Ultramontanismus samt dem Unfehlbarkeitsdogma auf dem Ersten Vatikanum sah er Gefahren, denen es zu wehren galt. Seine ernsthaften Bedenken drückte er unter anderem in seiner Schrift Der Kulturkampf aus. Solange diese Publikation nur auf Deutsch veröffentlicht wurde, löste sie kein grosses Echo aus. Kaum war die Schrift durch eine belgische Hofdame ins Französische übersetzt worden, stach sie französischen und belgischen Ultramontanen in die Nase und rief auch freiburgische Heisssporne auf den Plan. Die Schrift wurde auf den Index gesetzt. Es brauchte massive Interventionen gemässigter Luzerner Kreise, um die drohende Publikation zu verhindern. Denn eine solche Veröffentlichung hätte Segesser beim katholischen Luzerner Volk unmöglich gemacht. Ein sofortiger Rückzug aus dem öffentlichen Leben als Nationalrat in Bern wie aus dem Regierungsamt in Luzern wäre die Folge gewesen. Die massiven Interventionen in Rom hatten Erfolg. Die Indizierung erfolgte zwar, wurde aber nicht publiziert.

Im VIII. Band sind die Bemühungen Segessers um eine Lösung der total verfahrenen Solothurner Bistumsangelegenheit zu verfolgen. Seitdem 1873 die fünf radikalen Diözesanstände Bischof Lachat abgesetzt hatten, war das Bistum faktisch auf die zwei Kantone Luzern und Zug reduziert. Diese heikle Situation bewog die Luzerner Regierung, ihren kirchenpolitischen Experten Segesser zu beauftragen, einen Vorstoss bei der Diözesankonferenz zu unternehmen. Am 11. März 1878, drei Wochen nach der Wahl Leos XIII., schlug Luzern vor, das Gremium solle die Initiative ergreifen und sich um die Beilegung des Konfliktes bemühen. Die Kommission knüpfte auch Kontakte zum Bundesrat, dieser sondierte in Rom, und der Vatikan signalisierte Verhandlungsbereitschaft. Aber der Zeitpunkt für eine Lösung war noch nicht reif. Erst ein zweiter Anlauf, bei dem die Tessiner Verhältnisse in den Lösungsversuch miteinbezogen wurden, führte 1884 zum Erfolg. Bischof Lachat wechselte als Apostolischer Administrator in den Kanton Tessin, während Domprobst Friedrich Fiala Lachats Nachfolger in Solothurn wurde.

Zwei weitere kirchenpolitische Streitigkeiten beschäftigten Segesser in jenen Jahren: die Lehrschwesternfrage und der Luzerner Mariahilfkonflikt. Bei der Lehrschwesternangelegenheit ging es um die Frage, ob die Unterrichtstätigkeit der katholischen Lehrschwestern mit der Vorschrift der Bundesverfassung, dass an öffentlichen Schulen die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu gelten habe, kompatibel sei. Die aufblühenden Kongregationen von Menzingen und Ingenbohl, beides Gründungen von P. Theodosius Florentini, versorgten bald hunderte von Schulen in den katholischen Bergkantonen mit einer wachsenden Zahl von Lehrschwestern. Segesser war als Ratgeber der Menzinger Generaloberin Salesia Strickler und als politischer Vertreter des Schweizer Katholizismus in die Angelegenheit involviert. Er versuchte, die heikle Angelegenheit dadurch zu entschärfen, dass eine vom Kanton Zug angeregte gemeinsame Eingabe der katholisch- konservativen Stände von der Luzerner Regierung nicht unterstützt wurde. Dank hinhaltender Taktik Segessers gelang es, die Behandlung der Frage hinauszuzögern, bis der Abstimmungskampf um die «Schulvogtfrage » den Radikalen eine massive Niederlage in der Volksabstimmung brachte (1882) und die Frage gegenstandslos wurde.

Der Mariahilfkonflikt war letztlich ein luzernisches Problem. Ausgangspunkt des jahrelangen Streites war der Wunsch der Luzerner Christkatholiken, die Mariahilfkirche, die ehemalige Klosterkirche der Ursulinen, im Simultangebrauch für ihre Gottesdienste zu benützen. Letztlich ging es um die brisante Frage nach dem Stellenwert der christkatholischen Gemeinschaft in Luzern. Die Christkatholiken wollten unbedingt den Anspruch vertreten, dass sie die wahre katholische Kirche verkörpern, während die Luzerner Regierung, d.h. Segesser diese Frage ein für allemal liquidieren wollte, indem die Christkatholiken mit einer Summe von Fr. 25’000 bis 30’000 abgegolten werden sollten. Die Auseinandersetzungen dauerten bis 1890, als die Christkatholiken, ermüdet von den Streitigkeiten, kapitulierten und beschlossen, aus eigenen Kräften eine Kirche zu bauen.

Die Frage der Alpendurchbohrung beschäftigte Segesser sehr stark. Das Gotthardbahnprojekt lehnte er schon 1870 ab. 1875 geriet das Unternehmen in eine kritische Phase. Segesser wollte damals die Nachfinanzierung durch ein Nein zur Gotthardsubvention verhindern und hoffte dadurch, «das freisinnige System in seiner Verknüpfung von ökonomischer und politischer Herrschaft zu treffen ». Mit der Gotthardbahn könnte die Schweiz in eine verhängnisvolle Abhängigkeit vom Ausland (Deutschland und Italien) geraten. Als die Gotthardsubvention auch von seiner eigenen Partei unterstützt wurde, fühlte sich Segesser verraten und wollte der Politik den Rücken kehren. Schliesslich liess er vom Groll ab und arbeitete wieder loyal mit den Konservativen zusammen. Gegen Ende seines Lebens setzte sich Segesser intensiv mit Alter, Krankheit und Sterben auseinander. Der Tod trat am 30. Juni 1888 ein.

Was bleibt vom Wirken Segessers? Wohl niemand hat das besser ausgedrückt als sein langjähriger Brieffreund, Pfarrer Josef Ignaz von Ah, der im 19. Jahrhundert weitherum bekannte «Weltüberblicker» im Nidwaldner Volksblatt. Segesser hatte wieder einmal in einem Anflug von Pessimismus seine eigenen Verdienste gering eingeschätzt: «In meinem Wirken ist nicht viel Dauerndes herausgekommen. Bremsen konnte ich, aber unserm kleinen Wagen eine andere Richtung zu geben, vermochte ich nicht, es scheint mir, Alles mehr oder weniger in die Brüche zu gehen. » (Segesser an von Ah, 11. Januar 1888, Briefwechsel VIII, 419). Der priesterliche Brieffreund stellte alles wieder ins richtige Lot: «Wenn Sie sich beklagen, Sie haben nichts bewirkt oder wenig erreicht, so sind Sie doch – gestatten Sie mir den Ausdruck – etwas sehr unbescheiden; wenn Sie nichts gewirkt oder erreicht, wer soll sich denn dessen rühmen dürfen? Nahezu ein halbes Jahrhundert haben Sie dem Volk des Kantons Luzern und der konservativen Partei der ganzen Schweiz den Weg gewiesen und das Siegel Ihres Geistes aufgedrückt ... der grösste Erfolg Ihrer Politik liegt darin, dass wir Katholiken und Conservativen überhaupt noch dastehen, wir, – die mindren an Zahl, an Geld, an Industrie, an ‹Geist› und Einfluss. Die Geschichte währt noch lange genug, um Ihnen Recht zu geben und einen Dank zu erstatten, den die Mitwelt zu sehr gespart.» (Von Ah an Segesser, 6. April 1888, Briefwechsel VIII, 426).

Mit diesen wenigen Worten ist alles gesagt, was es zu Philipp Anton Segessers Bedeutung zu sagen gibt. Und das ist nicht wenig.

Zitierweise:
Alois Steiner: Rezension zu: Briefwechsel Philipp Anton von Segesser (1817–1888), hg. v. Victor Conzemius, Bände VII–IX, Band VII: 1876–1878 (bearbeitet von Victor Conzemius unter Mitarbeit von Heidi Bossard-Borner und Susanne Köppendörfer), Band VIII: 1879–1888 (bearbeitet von Heidi Bossard-Borner), Band IX: 1827–1841, Jugendjahre (bearbeitet von Heidi Bossard-Borner unter Mitarbeit von Susanne Köppendörfer), Academic Press, Freiburg Schweiz, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 707-709.

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